Diese manisch-depressiven Gefühlsattacken während des Wanderns können nur einen Grund haben: ich faste. Im Winter. Die meisten kennen die Fastenzeit zwischen Karneval und Ostern. Aber damit hat man sich im Mittelalter nicht zufrieden gegeben. Früher wurde zweimal im Jahr gefastet, jeweils sechs Wochen. Vor Ostern und vor Weihnachten. Deswegen gibt es am Festtag des Heiligen Martin, am 11. November, noch mal eine fette Gans. Der 11. November ist quasi der Aschermittwoch der Vorweihnachtszeit. Denn danach beginnt die vierzigtägige Fastenzeit. Bis Weihnachten.

Das wollte ich als großer Ausprobierer auch mal ausprobieren. Und zwar nicht in der Version eines Fasten Light, also nur, indem ich auf Glühwein, Stollen, Gebäck verzichte. Nein, Fasten total ist angesagt, fünf Tage lang nehme ich keine feste Nahrung zu mir. Nur Säfte und abends eine klare Gemüsebrühe sind erlaubt. Und, so heißt es im Handbuch des Fastengurus, man solle sich viel, aber gemäßigt bewegen. Spazierengehen, wandern. Mein Ding, hab ich gedacht. Und jetzt?

Vor wenigen Minuten, da fühlte ich mich sooo toll. Ich spürte förmlich, wie ich mit jedem Schritt dünner wurde. Phantastisch. Ich hatte das Gefühl, über mir zu schweben, größer zu werden. Ich spürte, wie ich über mich hinauswachse. Ich war echt high. Leider ist dieses Hochgefühl sehr sehr lange her. Mindestens fünf Minuten. Jetzt fühle ich mich einfach hundeelend. Ich schrumpfe. Der Hunger nagt in und an meinen Gedärmen. Ich habe kürzlich das hoch gelobte Buch „Brüder“ des chinesischen Autors Yu Hua gelesen. Dort leiden die beiden Protagonisten ständig unter nagendem Hunger, der einzige Ausweg: sie essen ihre Spucke. Das probiere ich auch, hilft aber nicht wirklich.

Und Herta Müller beschreibt in ihrer literaturnobelausgezeichneten „Atemschaukel“, wie der Hungerengel im sowjetischen Straflager die Menschen begleitet und quält. Alles nicht sehr schön

Vielleicht hätte ich mich lieber einer Gruppe anschließen sollen. Fastenwandern, so etwas gibt es ja. In diesem Marktsegment existiert ein unfassbar großes Angebot: Früchtefastenwandern, Kohlsuppendiätfastenwandern, Traubenfastenwandern, Schleimfastenwandern. Hm. Das ist doch alles für Weicheier, denke ich mir, die nehmen ja alle noch so etwas wie NAHRUNG zu sich. Kein richtiges Fasten. Außerdem habe ich Angst, dass ich in einer Fastenwandergruppe die ganze Zeit mit esoterischem Gequatsche vollgelabert werde. Deswegen habe ich mich gegen das organisierte Fastenwandern entschieden. Bin alleine unterwegs, Wandern ist ja mein Ding – oder?

Mir geht es immer noch sehr schlecht. Vielleicht, denke ich, bin ich ja auch nicht der richtige Typ für das Fasten. Die Menschen, hat man vor kurzem herausgefunden, sind ja eigentlich nicht gleich. Mein „schwerer Knochenbau” (Zitat meiner Mutter) verlangt vielleicht nach größerer Kohlenhydrat-Zufuhr als bei Anderen. Oder ich hätte mir nicht den Winter für die Fasten-Aktion aussuchen sollen. Hätte, könnte, aber … alles laber, laber. Ich muss da jetzt durch. Ich greife in meinen Rucksack, trinke Schluck für Schluck von meinem Orangensaft. Der ist mit Wasser verdünnt. Ahhh, schon besser.

Vielleicht habe ich ja Fastendepressionen. Denn der Blick auf die Waage heute Morgen war niederschmetternd. Ich hatte im Vergleich zum Vortag ein halbes Kilo zugenommen. Hat man das schon mal gehört? Da quäle ich mich fast zu Grunde und NEHME ZU!!! Aber ich ziehe das jetzt durch. Auch wenn es die letzte Fasten-Aktion in meinem Leben sein möge. Und übermorgen darf ich sogar wieder etwas essen. Einen ganzen Apfel, so schreibt es der Fasten-Guru vor.

Während ich weiter wandere, verschwindet langsam das Hungergefühl. Meine Schritte werden wieder länger, ich werde größer. Hach, denke ich, während ich alleine an diesem Mittwoch im Winter durch den Buchenwald wandere, hach, so eine Fastenwoche ist doch eigentlich etwas Großartiges. So reinigend, so erfrischend, einfach super. Ich liebe das Fasten! Aber eins ist klar: Bei meiner nächsten Wanderung gibt es mittags wieder ein Steak mit Fritten und zwei Hefeweizen dabei.