Interviewpartner und Kuratoren der Ausstellung Wander-Land im Germanischen Nationalmuseum (GNM), Nürnberg:

Dr. Thomas Brehm, Historiker, Leiter des Kunst- und Kulturpädagogischen Zentrums der Museen in Nürnberg (KPZ)

Barbara Leven M.A., Kunsthistorikerin, Volontärin in der Sammlung Volkskunde, Spielzeug und Judaica im Germanischen Nationalmuseum

Dr. Claudia Selheim, Leiterin der Sammlung Volkskunde, Spielzeug und Judaica im Germanischen Nationalmuseum

Dr. Frank Matthias Kammel, Kunsthistoriker, Leiter der Skulpturensammlung und Stellvertreter des Generaldirektors, inzwischen Generaldirektor des Bayerischen Nationalmuseums in München

 

Die Fragen für das Wandermagazin stellten:

Ulrich Grober, Autor

Michael Sänger, Herausgeber Wandermagazin

 

Wandermagazin:

„Wander Land“ - der Titel Ihrer Ausstellung klingt verheißungsvoll, sogar etwas geheimnisumwoben. Wie kamen Sie auf das Wort? Wie kamen Sie auf das Thema Ihrer Ausstellung?

Dr. Claudia Selheim:

Der Titel „Wander-Land“ steht erst seit letztem Jahr fest. Vorher hatten wir den Arbeitstitel: „Wandern – eine deutsche Lust“. Als Germanisches Nationalmuseum denken wir allerdings nicht in Landesgrenzen, sondern beziehen uns auf den gesamten deutschsprachigen Raum. „Wandern ist in aller Munde“ kann man sagen. Wir haben Studien dazu gelesen. Wandern ist Trend und bewegt viele Menschen. Uns interessiert, was dahinter steckt, was die Menschen zum Wandern veranlasste bzw. noch heute veranlasst. Das DB Mobil-Magazin titelte 2017 mit der neuen Lust am Wandern, online ploppt überall Werbung zum Thema Wandern auf und in Outdoorläden gibt es in großer Auswahl funktionelle und farbenfrohe Wanderbekleidung zu kaufen.

Dr. Thomas Brehm:

Es gibt kaum eine Region, die heute nicht bewandert wird, und die Industrie liefert die nützliche Ausrüstung dazu.

 

Wandermagazin:

Spannen wir mal den Bogen aus der kulturgeschichtlichen Vergangenheit in die Gegenwart. Worin liegt die Qualität des Wandererbes? Was ist das für den deutschsprachigen Raum so Charakteristische am oder beim Wandern? Haben Sie herausgearbeitet, was dieses spezifische Erbe ausmacht und wie es ausstrahlt?

Dr. Frank Matthias Kammel:

Heute wird auf der ganzen Welt gewandert. Die Gegenthese wäre: Auch den Christbaum gibt es auf der ganzen Welt, aber um die Ursprünge zu ergründen, muss man in die Vergangenheit gehen. Eine Vorliebe für verbindliche Regelungen und Pünktlichkeit gelten vielleicht als typisch deutsch. Auch das Wandern wird als typisch deutsch definiert, hierbei geht es allerdings um eine Freizeitbeschäftigung. Welche Bedingungen braucht es dafür? In der Diskussion haben wir einige Parameter herausgearbeitet: Klima und Landschaft gehören dazu, und freie Zeit. Wo das Wandern zum Muss wird, gleich aus welchen Gründen, grenzen wir das Ausstellungsthema ab. Wer wandern muss oder musste, tut dies nicht aus freien Stücken. Damit kommen wir ganz automatisch in die Gegenwart und in die Anfänge und in die Zeit dazwischen. Am Wandern können wir exemplarisch die Geschichte des deutschsprachigen Raumes vom 18. Jh. bis heute erzählen.

Dr. Thomas Brehm:

Ihre Fragestellung zielt auf die typische deutsche Lust am Wandern. Wir wollen in der Ausstellung auch andere Facetten zur Diskussion stellen, etwa das Nationalgefühl beim Wandern und wie es dabei oder dadurch zum Ausdruck kam. Vielleicht haben die deutschsprachigen Menschen eine ganz besondere Beziehung zur Landschaft? Alfred Grosser meinte einmal, für die Deutschen hätte der Wald eine besondere, ja mythische Bedeutung – wie für die Franzosen die Republik. Wir wollten die verschiedenen Motivlagen für die Menschen des deutschsprachigen Raumes als Unterscheidungsmerkmal festmachen.

 

Wandermagazin:

Das wiederum bedeutet, dass Sie mit der Romantik in das Ausstellungsthema einsteigen müssten – oder? Romantik ein Beschleuniger der deutschen Wanderlust? Begleitet durch die verkehrstechnische Erschließung des ländlichen Raumes mit der Eisenbahn, wurde ja dem Bildungsbürger wie Arbeiter erstmals die fußläufige Erkundung ermöglicht. Gestützt, das dürfte ja kein Zufall gewesen sein, dass in diesen Zeitraum auch die Gründung der meisten Wandervereine und die Ersterschließung des ländlichen Raumes mit einer gastronomischen Einkehr- Übernachtungsinfrastruktur fällt. Was davon sieht man in der Ausstellung?

Dr. Claudia Selheim:

Von der Aufklärung ausgehend werfen wir einen Blick auf die romantische Landschaft mit jenen Künstlern, die sich malend und schreibend die Natur per pedes erschlossen haben, und fokussieren letztlich fünf charakteristische und über die Jahrhunderte hinweg bedeutende Wanderlandschaften. Hier werden die Akteure bei der Entwicklung der Wanderlandschaften begleitet: Es gibt ein Kapitel zu den Wandervereinen, ein Kapitel zur Eisenbahn, die damals eigens eine Sonntag-Rückfahrtkarte für Wanderer anbot, und natürlich setzte das Wandern erstmals verfügbare „freie“ Zeit voraus. Außerdem beleuchten wir die damals zunehmende Entwicklung der Einkehr- und Übernachtungsinfrastruktur und reflektieren das Schaffen der vielen Verschönerungsvereine.

 

Wandermagazin:

Erst in den letzten zwei, drei Generationen, also etwa seit den 1950er Jahren, führten die Zersiedlung, die Industrialisierung der Landwirtschaft und die Ausbreitung der Verkehrs-Infrastrukturen zu einer flächendeckenden Überformung von Landschaft. Die Naturräume veränderten sich stärker als in den 2.000 Jahren davor. Ist das ein Thema der Ausstellung? Etwa der Verlust an Schönheit? Oder auch die ästhetische Veränderung als neue Chance?

Dr. Claudia Selheim:

Das diskutieren wir nur indirekt. Wir bestücken die Ausstellung ja ausschließlich mit originalen Objekten. Das beschränkt unsere Ausstellungsoptionen naturgemäß.

Dr. Frank Matthias Kammel:

Historisch betrachtet sind auch die Wanderer des 18. Jh. schon durch Kulturlandschaften gewandert. Die Landschaft, durch die etwa der Turnvater Jahn mit seinen Zöglingen lief, war auch zur damaligen Zeit keine Wildnis mehr. Wir haben daher fünf Wanderregionen exemplarisch ausgewählt. Es sind Regionen, die damals wie heute nicht das Extreme präsentieren, weder an Wildnis noch an Relief. Es sind Regionen, die rasch nach der Erschließung förmlich zum Wandern ausgebaut wurden. Schon damals gab es ein „sich Gefügigmachen“ der Landschaft. Wir haben heute natürlich massivere Beeinträchtigungen in den Naturlandschaften, mit teils umwälzenden Veränderungen. Wandern erfordert ja gerade nicht das Unberührte wie beim Klettern oder Trekking. Im Gegenteil, die Parameter für das Wandern waren schon immer die ausgebauten bzw. ausgeprägten Wirtschaftsstrukturen und die Gefügigmachung der Natur in Form von Kulturlandschaft. Ich frage mich, wie nachfolgende Generationen mit der Thematik und der Perzeption von Landschaft umgehen werden. Für sie wird das vermutlich so normal sein wie für uns, die wir heute an Maisfeldern und Windrädern entlang schlendern.

Dr. Claudia Selheim:

Ende des 19. Jh. kam beispielsweise ein regelrechter Bauboom bezüglich Aussichtstürmen und -plattformen auf, um den Ausblick in die Landschaft und damit die Attraktivität der Wanderstrecke zu verbessern. Wanderlandschaften sind heute nun einmal verbaute und möblierte und überformte Naturlandschaften. Übrigens haben wir uns auch das digitale Wandern in allen gegenwärtigen Facetten angeschaut.

Dr. Thomas Brehm:

Die Suche nach großartigen Landschaftsräumen ist stets zeitgeistig. Und ist auch heute ungebrochen. Wenn wir beispielsweise auf die Webseite von http://germanroamers.org gehen und uns von den brillanten Bildern dieser Fotografen beeindrucken und faszinieren lassen, handelt es sich um aktuelle Bilder von romantischen Standorten. Die Schönheit spiegelt sich – je nach Betrachter, Tageszeit und Standort – manchmal auch im kleinflächigen Detail. Was den Wanderer von früher und heute eint, ist die Suche nach vermeintlichen „Zufällen“, nach dem spontanen ästhetischen Hochgenuss.

 

Wandermagazin:

Vielerorts schwinden wichtige Voraussetzungen, um die Kulturlandschaften erleben und genießen zu können, etwa wenn die Aufrechterhaltung von Einkehr- und Übernachtungsinfrastrukturen, die Anbindung an den ÖPNV etc., nicht mehr oder bald nicht mehr gegeben sind. Gehen Sie auf diese Problematik ein?

Dr. Thomas Brehm:

Wir bedienen sehr viele verschiedene Tendenzen. Regionen entwickeln spezielle eigene Strukturen, die sich zum Beispiel stärker als in anderen Regionen gezielt auf den Wandertourismus konzentrieren. Und wir haben Regionen, die hier noch Nachholbedarf haben, etwa in einigen fränkischen Gegenden, wo es meiner Meinung nach an den Bemühungen mangelt, sich zu profilieren und Wertschöpfung mit dem Wandern zu generieren.

Dr. Frank Matthias Kammel:

Im Fränkischen ist es heute schon deshalb schwierig, eine Infrastruktur zum Wandern aufzubauen, weil auch vorher nicht viel da war. Nach der Wende ist hier viel an Infrastruktur zusammengebrochen. Junge Wanderregionen tun sich da etwas leichter ... Vor der Wiedervereinigung gab es jahrzehntelang einen boomenden 14-Tagetourismus, die Auslastung war mehr oder weniger gottgegeben. Den Umbruch in Franken sehen wir überall dort, wo der Schwenk auf den heute so beliebten Wochenend- oder Brückentagsbetrieb oder die Kapazitäten für Kurzurlaube nicht erfolgten.

Dr. Claudia Selheim:

Allerdings gibt es solche Entwicklungen auch am Rhein ...

 

Wandermagazin:

Auf welchen statistischen Befunden fußt die Ausstellung, und präsentieren Sie auch solche Studien, die etwa die Entwicklung der jährlich abnehmenden Wanderzeiten und Wanderkilometer etc. abbilden? So attestiert die VUMA (Die halbjährlich seit Jahrzehnten aufgelegte Verbrauchs- und Medienanalyse) dem Wandern seit 2008 einen ständigen Rückgang ... Bilden Sie davon etwas ab?

Dr. Claudia Selheim:

In der Ausstellung werden wir keine Statistiken präsentieren, allerdings im Katalog in den Beiträgen verschiedentlich darauf eingehen.

Dr. Frank Matthias Kammel:

Wir glauben, der Ausstellungsbesucher will Objekte und keine Statistiken sehen.

 

Wandermagazin:

Lassen Sie uns nochmals ein Stück zurückgehen. Sich fremd sein im eigenen Land ist aktuell ein zeitgeistiges Gefühl und spürbar präsent. Ist das Wandern wieder ein Medium, um dieses Gefühl der Entfremdung im eigenen Land zu überwinden? Etwa durch die Wiederentdeckung der Nahräume und deren ganz eigene Exotik? Gab es in der Vergangenheit des Wanderns eine andere Verbundenheit mit der Landschaft, die man sich durch die Bewegung in natürlichen wie kulturellen Räumen, durch das Genießen von Stimmungen, erweitert um die Kenntnis des Kultur-Erbes aneignen konnte und wollte? Gibt es Anhaltspunkte dafür, wie man diese Impulse für das Wandern, soweit sie heute noch existieren und begehbar sind, neu ins Spiel bringen kann?

Dr. Thomas Brehm:

Gewiss durch den Blick zurück auf die Geschichte des Wanderns. Ich glaube, dass der Gang durch die Historie, den die Ausstellung am Beispiel des Wanderns ja nahelegt, eine implizite Aufforderung zum Wandern gibt. Und vielleicht führt dieser Push ja dazu, die erste oder nächste Wanderung einmal anders zu gestalten und Gesehenes und Erlebtes neu zu interpretieren. Ich denke an den Gesundheitsaspekt. Auch das Wiederfinden des Gefühls für die Natur und wir als Teil der Natur sind ein Beleg für diesen Versuch.

 

Wandermagazin:

Ist das ein Effekt, den Sie intendieren: Ich gehe durch die Ausstellung und habe dann den Impuls, wieder mehr, anders oder erstmals zu wandern?

Dr. Thomas Brehm:

Das wäre doch toll!

Dr. Frank Matthias Kammel:

Wer sich auf die Ausstellung einlässt, wird vermutlich bewusster wandern. Gewandert wird immer in Perioden gesellschaftlicher Modernisierung, eines grundlegenden gesellschaftlichen Wandels. Es gibt dann dieses Gefühl, dass ich plötzlich nicht mehr mit den Zwängen und Veränderungen zurechtkomme. Industrialisierung, Modernisierung, Besatzung, Globalisierung etc. sind Belege dafür, die wir bei unserem Gang durch die Geschichte des Wanderns deutlich identifizieren konnten. Die aktuelle Modernisierung fördert zum Beispiel sichtlich das Wandern als ein Mittel zur Entschleunigung. Ein zweiter Aspekt ist die anthropologische Konstante. Der Hardcore-Wanderer hat schon immer ein klar umrissenes Ziel gesucht, den Ausblick, die Burg, das Schloss, den Gipfel etc. Heute wie früher, auch bei den Romantikern, die sich vom Bauern auf den Bauernsteigen ganz individuell führen ließen, ist dieses Ziel, diese erwartete Stimmung begehrenswert. Ich will ein Ziel erreichen, das Ziel impliziert eine Stimmung mit ersehntem hohen Befriedigungspotential. Die Welt will ich an diesem Ort „in Ordnung“, überschaubar, vertraut wahrnehmen.

 

Wandermagazin:

Was erwartet den Wanderer in der Ausstellung und welche Denkanstöße dürfen nach Ihrem Konzeptwillen erzeugt werden bzw. sind als Schnittstellen im Konzept angelegt?

Dr. Claudia Selheim:

Am Eingang wollen wir den Besucher mit vertrauten Objekten abholen, etwa einem Paar Wanderstiefel, einem Wanderstock, einem Wanderhut, einem Wanderrucksack und einer Wanderkarte. Dabei haben wir bedeutende Stücke mit Geschichte ausgewählt, die wir mit modernen Kunstwerken aktueller Künstler kombinieren. Zu denen gehören zum Beispiel Felicitas Franck, die kleine Plastiken rund ums Wandern gestaltet, oder Maria Mathieu, die sich in ihrer Arbeit konzeptuell mit dem Wandern auseinandersetzt. Sie wanderte in 40 Tagen 860 Kilometer von Marseille nach Lourdes, und jeder einzelne Schritt findet sich als Strich auf ihrer monumentalen Arbeit „Wie lang ist ein Weg“ wieder.

Dr. Frank Matthias Kammel:

Interessant ist vielleicht noch, dass wir die Motivvielfalt des Wanderers reflektieren werden, die vom „Wanderer über dem Nebelmeer“ von Caspar David Friedrich bis zum Wandern in der Musik reicht. Das Wandern steht in diesen Fällen für eine Befindlichkeit. Wir stellen historische Werke der Hochkunst ebenso vor wie die romantischen Blicke in den Fotos der German Roamers. Es geht uns also nicht nur um die Freizeitbeschäftigung selbst, es geht uns auch um die Reflexionen zum und mit dem Wandern. Der „Wanderer im Sturm“ von Ernst Barlach ist nämlich nicht der entspannte Freizeitwanderer. Im Gegenteil, er steht für den Wanderer als unbehausten Zeitgeist, immer auf Tour. Dieses Motiv finden wir in der Kunst über Jahrhunderte von der Romantik bis heute immer wieder. Auch in der Literatur, bei Peter Härtling zum Beispiel. Uns ist daran gelegen, die Unterschiedlichkeit der verschiedenen Wandermotive mit prägenden Ausstellungsobjekten zu präsentieren.
 

Wandermagazin:

Interessant, ich beziehe mich zum Beispiel häufig auf den sogar ins Englische eingewanderten Begriff der „Wanderlust“, der ja nichts anderes als die Sehnsucht nach Freiheit umschreibt. Das Motiv der existentiellen Unbehaustheit, das nach Ihrer Aussage die gesamte Geschichte des Wanderns mitbestimmt und insbesondere auch in dem Wort Wanderlust mitschwingt, das ist eine für uns ganz neue und spannende Dimension.

Dr. Frank Matthias Kammel:

Wir hatten vorhin kurz den Fokus auf Angaben zur abnehmenden „Reichweite“ des heutigen Wellnesswanderers gelenkt. Die Wanderliteratur für die vielen eher kurze Distanzen bevorzugenden Streckenwanderer boomt ja gerade. Sie stellen sich angesichts der ungeklärten existentiellen Grundfragen, wo übernachte ich heute oder morgen, taugt die Ausrüstung beim drohenden Wetter etc., noch diesen Problemen. Wer sich mit dieser Wanderausstellung beschäftigt, könnte den Schlüssel für das neue Verständnis oder ein anderes Verständnis des Wanderns in Händen halten.

 

Wandermagazin:

Wessen Wanderausstattung präsentieren Sie denn am Eingang?

Dr. Claudia Selheim:

Wir zeigen beispielsweise die Wanderschuhe von Helmut Kohl, außerdem den beschädigten Hut eines Wanderers, der mal vom Blitz getroffen wurde, wir haben einen Wanderstock mit 51 Stocknägeln, den Rucksack von Herman Löns und die Wanderkarte von Manuel Andrack. Die Andenkenproduktion berücksichtigen wir natürlich auch in kleinem Umfange Wir widmen uns dem „romantischen Blick“ auf die Landschaft, den wir über die Zeiten hinweg bis heute vergegenwärtigen.

Dann führen wir durch die fünf verschiedenen Regionen und ihre Akteure. Im Harz blicken wir auf die Grafen von Wernigerode, die durch bauliche Maßnahmen für schöne Aussichten sorgten. Julius von Plänckner im Thüringer Wald hat den Rennsteig genauestens vermessen. Das Riesengebirge wurde stark vom Bürgertum besucht, etwa vom Bankier Abraham Mendelsson aus Berlin, der über seine dortigen Wanderungen Tagebuch führte und diese Aufzeichnungen hinterließ. Damals wanderte man noch mit einem persönlichen Führer. In der Sächsischen Schweiz sind es der Schweizer Maler Adrian Zingg und seine Schüler, die er bei der Gelegenheit aufforderte, vermarktungsfähige Grafiken der Gegend zu erstellen. Den Abschluss bildet die Fränkische Schweiz, wo die Literaten eine große Rolle spielten, so etwa Tieck und Wackenroder. 

Dr. Frank Matthias Kammel:

Wanderlandschaften wurden bereits in der Romantik durch die Bebauung kreiert und gestaltet. Ich denke an das Brockenhaus durch Graf Christian Friedrich zu Wernigerode, erbaut, um dem Wanderer Ziel, Einkehr und Schutz zu geben.

Barbara Leven:

Danach thematisieren wir die verschiedenen Gründe, wandern zu gehen Es ist vielleicht nicht so bekannt, dass viele Wanderer als Hobbywissenschaftler auf Wandertouren unterwegs sind. Eduard Mörike zum Beispiel war ein engagierter Hobbygeologe und -paläontologe.

Dr. Thomas Brehm:

Mit Turnvater Jahn widmen wir uns dann dem Thema des nationalen Wanderns. Bevor geturnt wurde, wurde gewandert, um die Bürgerkinder überhaupt zu mobilisieren. Nationales Bewusstsein sollte durch Gruppenwandern gefördert und durch das gemeinsame Erlebnis verinnerlicht werden. Vaterländisches Wandern in der Gruppe und der konspirative Charakter des Ziehens von Ort zu Ort entzogen das Treiben der Überwachung. Außerdem sollten die Zöglinge auf diese Weise deutsche Wanderlandschaften entdecken. Ernst Heinrich Zober veröffentlichte 1822 das Buch „Der deutsche Wanderer“. Es befasste sich erstmals in Form eines Handbuches mit den Vorbereitungen des „vaterländischen Wanderns“, basierend auf seinen eigenen Wanderungen. Der Deutsche Turnerbund e.V. legt auch heute noch großen Wert auf seine Wanderabteilung, in dem seine Ursprünge liegen.

Dr. Claudia Selheim:

Die Eisenbahn und historisch anmutende Burgen- und Turmbauten spielen in weiteren Ausstellungsbereichen eine Rolle. Außerdem spielt die Frage der Orientierung eine große Rolle. Im 18. Jh. beauftragten viele Wanderer noch einen persönlichen Führer, gegen Ende des Jahrhunderts kamen dann erste Markierungssysteme auf. Es folgten Wegweisungen „zum Mitnehmen“, die analoge und digitale Karte. Dann wird auch noch die Vereinskultur beleuchtet. Wir haben Heinrich Kohl vom Pfälzerwald Verein ausgesucht, den Gründer des Vereins, den wir in einem eindrucksvollen Gemälde von Max Slevogt sehen können. An seinem Beispiel beleuchten wir die Erschließung des Pfälzerwaldes, stellen Abzeichen, Fahnen, Wimpel aus. Beim individuellen Wandern blicken wir auf Theodor Heuss, den ersten Bundespräsidenten und ersten Verwaltungsratsvorsitzenden unseres Museums nach dem Zweiten Weltkrieg. Er wanderte bereits als Schüler und hat Wandertagebücher hinterlassen. Wir gehen auf einen angehenden Geistlichen ein, der 1871 mit seinen Schwestern durch das Riesengebirge zog. Wir beleuchten die Rolle der Frauen, die zwar auch gewandert sind, dennoch nie wirklich im Fokus standen. Wir stellen einen Tragestuhl aus, mit dem Frauen, aber auch Kranke und Schwache durch die Sächsische Schweiz getragen wurden. Für das 20. Jh. thematisieren wir die Wanderbewegungen (Wandervögel, Naturfreunde), aber auch das Schulwandern. Es begleitet uns, wie wir wissen, bis in die aktuelle Zeit. Auch das Beispiel das Jugendherbergswandern spielt in der Ausstellung eine Rolle.

Dr. Frank Matthias Kammel:

Schulwandern ist übrigens wieder ein Beispiel für das speziell Deutsche am Wandern. Wir finden es über lange Zeit nur im deutschsprachigen Raum.

Dr. Claudia Selheim:

Der gelenkte Blick ist ein weiteres Thema. Am Beispiel gedruckter Wanderführer interpretieren wir diese Entwicklung. Das Wandern im Nationalsozialismus ist ein weiterer Aspekt. Heile Welten und kleine Fluchten, eine Phase nach dem Zweiten Weltkrieg, wird reflektiert, die im Osten und im Westen gleichermaßen nachweisbar ist. In der ehemaligen DDR gab es Brettspiele zum Wandern, im Westen spielte man hingegen die Europareise. Wir veranschaulichen die Parallelen zwischen Herbert Roth (Ost) und Rudolf Schock (West) und zeigen die wunderbaren Entwürfe für die Ausschilderung der Rundwanderparkplätze, eine Initiative des Präsidenten des Deutschen Wanderverbandes Georg Fahrbach in den 1960er Jahren.

Dr. Thomas Brehm:

„Wenn Politiker wandern“ ist auch eines unserer Themen. Karl Carstens als wandernder Bundespräsident ist unvergessen. Er ist als Bundespräsident eigentlich nur durch seine Wanderungen in Erinnerung geblieben. Helmut Kohl zeigen wir als Wanderer. Selbst Gerhard Schröder als Wanderer ist interessant, aufgenommen auf dem Rennsteig. Wir zeigen, wie Strauß und Kohl wandern gingen. Wandern kann eben auch politisch konnotiert sein. Es gibt auch heute viele Abgeordnete, die mit der Bevölkerung und potentiellen Wählerschaft auf Wandertour gehen.

Dr. Frank Matthias Kammel:

Wir wollen viele Eindrücke liefern und aufzeigen, wo und wie sich das Wandern in Deutschland bzw. dem deutschsprachigen Raum durch die Jahrhunderte entwickelt und verändert hat. Ausstellungen zu organisieren bedeutet auch, die Kunst des Weglassens zu perfektionieren. Die sinnliche Erlebbarkeit ist uns wichtig.

Dr. Claudia Selheim:

Wir haben noch die Sequenzen „Wandern im Film“ und „Wandern als Wirtschaftsfaktor“.

Barbara Leven:

Wir sprechen auch die Frage an, wie sich das Zeitalter der Digitalisierung und der Beschleunigung auf das Wandern auswirken. Dabei geht es darum, in welchen Räumen, bspw. virtuellen Welten, heute gewandert wird.

Dr. Frank Matthias Kammel:

Vielleicht kann ich mir künftig die Landschaft meiner Wandertour schön machen? Wenn alles digitalisiert sein wird, dann wäre das ggfs. möglich. Wandern reflektiert immer auch aktuelle Trends bzw. spiegelt den Zeitgeist und die Gegebenheiten.

 

Wandermagazin:

Kommen wir zu unserer letzten Frage: Ist Wandern noch zeitgemäß? Wir meinen, ja. In Zeiten der Globalisierung und Digitalisierung ist die Kontrasterfahrung, das Erleben der Nahräume mit allen Sinnen, überlebenswichtig. Aber lösen Ihre vielen Exponate aus der Vergangenheit nicht eher den Effekt aus, dass die damit verbundene Praxis belächelt wird? Dass man sie als überholt einstuft? Wie beurteilen Sie die Zukunftsfähigkeit des Wanderlandes Deutschland?

Dr. Frank Matthias Kammel:

Wir stellen das Wandern ja nicht als vergangen dar. Wir spiegeln hingegen die lange Geschichte, die bereits Tradition hat. Vergangenes wie Gegenwärtiges betrachten wir immer im Spiegel der Zeit und der Gesellschaftskritik. Alles was historisch manifestiert ist, das ist unsere Erfahrung, wird nicht belächelt.

Dr. Thomas Brehm:

Ich glaube nicht, dass das Wandern belächelt werden wird, gestern, heute und morgen nicht. Das Laufen, also das Wandern, wie auch die Naturerfahrung (ich klammere mal die digitalen Möglichkeiten aus) wird als Sehnsucht immer bestehen. Die Psyche wird verhungern, wenn uns der körperliche Bezug zur Natur abhandenkommen sollte. Wandern ist immer das Laufen über Stock und Stein, egal, welcher Windhauch der Geschichte weht.

Dr. Frank Matthias Kammel:

Es hat auch immer Protagonisten gegeben, Seume hin, Turnvater Jahn oder Kerkeling her, die dem Wandern eine authentische Facette verliehen haben. Wenn es diese ehrlichen, glaubwürdigen und authentischen Protagonisten zukünftig gibt, und dass es sie gibt und geben wird, daran besteht nicht der geringste Zweifel, dann muss es uns um das Wandern nicht bange sein.

 

Wandermagazin:

Liebes Kuratorenteam dieser spannenden Sonderausstellung: Wir sagen von Herzen Dankeschön und wünschen Ihnen viele tausend Besucher ...